HANNOVER.
Zwei Tage hat Ministerpräsident Stephan Weil in Brüssel zahlreiche Gespräche geführt. Nach einem Treffen mit Didier Reynders, Kommissar für Justiz und Rechtsstaatlichkeit und einem Austausch mit niedersächsischen Europaabgeordneten vorgestern Abend hatte der Ministerpräsident gestern kurz hintereinander unter anderem Termine mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, mit Margrethe Vestager, EU-Kommissarin für Wettbewerb und Digitales, mit Kerstin Jorna, Generaldirektorin für Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU, mit Margaritis Schinas, Vizepräsident der EU-Kommission, zuständig für Migration, Gleichheit und Diversität und schließlich mit Maroš Šefčovič, EU-Kommissar für interinstitutionelle Beziehungen. Am Rande des abendlichen Grünkohlessens hat sich der Ministerpräsident dann noch mit Nicolas Schmit, Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, ausgetauscht.
Thematisch stand bei den Gesprächen in Brüssel die zukünftige europäische Industriepolitik im Mittelpunkt. Es ging aber auch um Rechtsstaat und Grundrechte, um eine etwaige zukünftige europäische Migrationspolitik, um den Krieg in der Ukraine und die Sanktionen gegen Russland.
Hier ein industriepolitisches Fazit des Ministerpräsidenten auf der Rückfahrt nach Niedersachsen:
„Es war eine hochinteressante und lohnende Reise nach Brüssel in herausfordernden Zeiten. Die Europäische Kommission steht kurz vor der Veröffentlichung einer neuen Strategie zur Unterstützung von Wirtschaftsunternehmen bei der Reduktion des CO2-Ausstoßes auf Null (‚Net-Zero-Industry-Act‘). Ich habe meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern noch einmal sehr eindringlich die Bedeutung einer nachhaltigen Großindustrie für Niedersachsen, für Deutschland, aber auch für Europa dargestellt.
Niedersachsen ist ein Industrieland und muss das auch bleiben – in Zukunft allerdings klimaneutral. Gerade unsere energieintensive Industrie aber braucht vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges und der hohen Energiepreise Unterstützung beim Übergang zur CO2-Neutralität. Dafür müssen die EU-Vorschriften flexibilisiert und die Verfahren in Deutschland wie in der EU einfacher und schneller werden.
Worum geht es: Wir müssen zum einen die bestehende energieintensive Industrie in Europa, die zugegebenermaßen vornehmlich in Deutschland zu finden ist, trotz deutlich gestiegener Energiepreise in die Lage versetzen, die Transformation hin zur CO2-Neutralität zu schaffen. Wir müssen außerdem – wiederum trotz der deutlich gestiegenen Energiepreise – industrielle Zukunftsbranchen, wie beispielsweise Batteriezell- oder Halbleiterproduktionen, in Europa ansiedeln.
Ich persönlich bin zutiefst davon überzeugt, dass Europa ohne eine breit angelegte und möglichst vollständige Industrieproduktion zu schwach wäre, um langfristig in dem Wettbewerb mit den USA und China zu bestehen. Wir erleben auf globaler Ebene immer stärker den Zweikampf zwischen den Vereinigten Staaten und China und es stellt sich die Frage: wo bleibt Europa?
Wenn es uns nicht gelingt, in Europa auch industriell stark zu bleiben, setzen andere die Maßstäbe. Ohne eine erfolgreiche Industrie sind nicht nur tausende Arbeitsplätze, sondern auch gesellschaftlicher Wohlstand bedroht.
Das prominenteste Beispiel für eine Industrie, die im Moment vor enormen Herausforderungen steht, ist die chemische Industrie. Die chemische Industrie braucht besonders viel Energie, damit ist sie aber auch klimapolitisch hoch relevant. Die Verantwortlichen in den Unternehmen sind gleichzeitig hoch motiviert, mit guten Konzepten die CO2-Reduktion auf Null zu schaffen, brauchen dafür aber einige Jahre Zeit. Es liegt auf der Hand, dass es schwierig bis unmöglich ist, aus eigener Kraft enorme Investitionen in die Transformation zu tätigen und gleichzeitig enorm hohe Energiepreise zu zahlen.
Die Umstellung der energieintensiven Industrie hin zu einem Betrieb mit Erneuerbaren Energien muss deshalb auch mit Unterstützungsleistungen überbrückt werden. Nur so können Deutschland und die EU dem Verlagerungsdruck, also der akuten Gefahr, dass gerade energieintensive Unternehmen in Länder mit niedrigeren Energiepreisen abwandern oder gar nicht erst in Europa errichtet werden, entgegenwirken. Alles andere wäre auch insofern unverantwortlich, als viele energieintensive Unternehmen Produkte herstellen, die in Europa dringend für die Errichtung von Wind- und Solaranlagen, aber auch für umweltfreundliche Mobilität gebraucht werden.
Im Hinblick auf den ‚Inflation Reduction Act‘ der Vereinigten Staaten teile ich durchaus die These, dass man jetzt nicht in einen Subventionswettbewerb eintreten kann. Europa darf allerdings auch keinesfalls untätig bleiben und muss denjenigen Unternehmen, die sehr klare, ambitionierte Transformationskonzepte auf den Tisch legen, verlässlich beiseite stehen.
Wenn wir dann aber in einigen Jahren die Produktion erneuerbarer Energien in Europa deutlich ausgebaut haben werden, werden auch energieintensive Großunternehmen bei uns hoch wirtschaftlich und umweltfreundlich arbeiten können.
Ich habe deshalb gestern in meinen Gesprächen immer wieder auf die hohe Bedeutung einer verlässlichen, mehrjährigen finanziellen Unterstützung, gerade auch für die industrielle Transformation, hingewiesen. Meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner haben für dieses Anliegen durchaus Verständnis gezeigt. Ob dieses Verständnis jedoch ausreicht, um die Weichen zukünftiger europäischer Förder- und Beihilfepolitik entsprechend zu stellen, kann ich nicht einschätzen. Insofern bin ich sehr gespannt auf den für nächste Woche angekündigten ‚Net-Zero-Industry-Act‘.
In den nächsten vier Wochen ist außerdem mit einer Fortschreibung des Beihilferahmens durch die Kommission zu rechnen. Die neuen Beihilfe-Regeln müssen unbedingt flexibler sein als die bisherigen. Die Schwellenwerte von bislang 200.000 Euro müssen deutlich angehoben werden. Auch die wesentlich zu engen Grenzen für Regionalbeihilfen müssen gelockert werden.
Wichtig ist auch, dass nicht nur in Deutschland, sondern auch in der EU die Prüfungs- und Genehmigungsverfahren deutlich beschleunigt werden. Dies gilt in besonderer Weise für die Notifikationen der IPCEI-Projekte (‚Important Project of Common European Interest‘) zum Thema Wasserstoff, deren Prüfung wesentlich zu lange dauert. Hier geht es um wichtige und dringende Transformationsvorhaben, die beispielhaft für den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft sein werden. Allein die niedersächsischen IPCEI-Projekte haben ein Investitionsvolumen von insgesamt sechs Milliarden Euro.
Noch einmal: Ein zu vorsichtiges und zurückhaltendes Agieren auf europäischer Ebene könnte in der aktuell angespannten Lage nicht nur die bestehenden Industrieunternehmen in Europa gefährden, sondern auch dazu führen, dass Europa den Anschluss an die Zukunftsindustrie in wichtigen Bereichen verpasst.“